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199383

(1999) Autobiographische Schriften, Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften.

Paris

Auf dem Wege zu einer eigenen Konzeption

René König

pp. 83-93

Als ich im März 1977 das Centre Georges Pompidou bis zum letzten Stockwerk erklommen hatte und — vom Plateau Beaubourg aus gesehen — von der rechten oberen Ecke aus über Paris schaute, erhielt ich zu meiner großen Überraschung zum ersten Male in meinem Leben einen Gesamtüberblick über jenen Teil von Paris, in dem ich als Kind aufgewachsen war. Es war ein für Paris so typischer stürmischer Vorfrühlingstag mit Kanal-Wetter. Die Wolken hingen in langen Schleppen tief über der Stadt. Als plötzlich, für wenige Augenblicke nur, die Sonne durchbrach, stand die Kirche von Sacré-Coeur mit ihren klaren Konturen grellweiß über dem Häusergewimmel, das von den äußeren Boulevards zur Butte de Montmartre aufsteigt. In kurzer Distanz von dort nach links, wo sich heute große fünf- bis sechsstöckige Wohnhäuser erheben, die erst Anfang der zwanziger Jahre gebaut worden sind, hatte das Haus meines französischen Großvaters gestanden, ziemlich am Ende der Impasse Girardon, einer Sackgasse, die vor dem Ersten Weltkrieg an einer Art von Tor endete, durch das man auf dem jenseitigen Hang die Schafe weiden sah. Darüber hinaus war der Blick damals frei gewesen bis zum Friedhof von Colaincourt. Von der Place Blanche führt in großem Schwunge die Rue Lepic auf die Höhe, links unten an der scharfen Kurve stand der Moulin de la Galette, eine alte Windmühle, die schon lange verschwunden ist. An eine andere Mühle der gleichen Art erinnert heute am Boulevard der Name des Moulin Rouge, der nach dem Ersten Weltkrieg zu einer weltberühmten Varieté- und Revue-Bühne wurde, wo ich als Student Mistinguette, Josephine Baker und Maurice Chevalier erlebte. Damals war Montmartre das Zentrum der Pariser Bohème, die spätestens zu Beginn der Zwanziger Jahre nach Montparnasse auf die andere Seite von Paris verzog und in Montmartre ein trauriges Hurenquartier für den billigeren Tourismus hinterließ, wahrscheinlich als Folge der letzten Kriegsmonate. Auch hier war der soziale Wandel über ein Stadtquartier dahingefegt, in seinen Anfängen vielleicht schon vor dem Ersten Weltkrieg, wodurch eine Art Slum entstanden war, in dem halbverfallene und verwanzte Häuser einander abwechselten mit Restaurants, Nachtklubs, Bordells, Stunden-Hotels, großen Uraufführungskinos am Place Pigalle und billigen Wohnungen für Heimarbeiterinnen, die ihren kümmerlichen Lohn durch ihre Tätigkeit auf der Straße aufbesserten.

Publication details

DOI: 10.1007/978-3-322-80859-2_5

Full citation:

König, R. (1999). Paris: Auf dem Wege zu einer eigenen Konzeption, in Autobiographische Schriften, Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften, pp. 83-93.

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