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222302

(2007) Kleist-Jahrbuch 2007, Stuttgart, Metzler.

Gott und Gliedermann

Gerhard Oberlin

pp. 273-288

Es gehört zu den schärfsten Paradoxien der Kleistschen Erzählung ›Über das Marionettentheater‹, wenn der von einem ›Maschinisten‹ gelenkte ›Gliedermann‹ am Ende ›Gott‹ an ›Grazie‹ gleichgestellt wird. Dies geschieht im letzten Glied einer Argumentationskette, die das aufs Ästhetische reduzierte Phänomen ›Grazie‹ paradigmatisch an das ›verlorene Paradies‹ des Menschen und der ›Menschheit‹ bindet, dieses in Rousseau'scher Manier mit der Abwesenheit von (stets unglücklichem und stets denaturiertem!) Bewusstsein begründet2 und daraus im dialektischen Verfahren eine Utopie konstruiert, die dem omnipotenten Bewusstsein ein synthetisches Paradies und damit erneut die Voraussetzungen für ›Grazie‹ assoziiert. Paul de Man hat angesichts dieser Konstruktion von einem »der verführerischsten, mächtigsten und illusionsreichsten Topoi der idealistischen und romantischen Periode« gesprochen.3 Möglich wird sie durch die Prämisse, dass ›Anmut‹ ohne ›Geist‹ gar nicht zu denken sei, denn nach Schiller ist diese »eine Schönheit, die nicht von der Natur gegeben, sondern von dem Subjekte selbst hervorgebracht wird«.4 Sie ist also ein anthropologisches Spezifikum, wie es nur im Rahmen eines gnostischen Menschenbilds denkbar ist. Indem der Begriff ›Geist‹ das Nicht-Materielle schlechthin repräsentiert, lässt sich das Geistige auf das schlechthin Seelische reduzieren, während das Körperliche sich zwar als physischer Erbteil der Natur qualifiziert, aber dem Geistigen sub specie aeternitatis unterlegen ist.

Publication details

DOI: 10.1007/978-3-476-00319-5_20

Full citation:

Oberlin, G. (2007)., Gott und Gliedermann, in G. Brandstetter, S. Doering & G. Blamberger (Hrsg.), Kleist-Jahrbuch 2007, Stuttgart, Metzler, pp. 273-288.

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