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(2018) Kleine Geschichte der Philosophie, Dordrecht, Springer.

Philosophie im neunzehnten Jahrhundert

Vom Aufstieg und Fall der Vernunftansprüche

Heiko Reisch

pp. 151-195

Das neunzehnte Jahrhundert ist philosophisch ein deutsches. Zuerst dehnt der Deutsche Idealismus das Ich und das Bewusstsein unendlich aus und beschreibt einen Höhenflug der Vernunft, der in das umfassende geschlossene System von Hegel mündet. Was Kant in erkennbares Wissen und seine nicht hintergehbaren Grenzen zerrissen hat, soll in einem spekulativen System schließlich wieder eins sein. Die ganze Objektwelt wird dabei in das Subjekt hineingeholt, alles scheint das Produkt eines schöpferischen Geistes zu sein. Bewusstsein und Geist werden philosophisch dabei so allumfassend konzipiert, dass das Ganze danach nur noch auseinander brechen kann. So fragwürdig wie das überdehnte Subjekt wird anschließend auch der Staat. Marx stellt Hegel auf die Füße und dem Konzept des Vernunftstaats eine materialistische Gesellschafts- und Geschichtsvorstellung entgegen. Einen Fortschritt in der Geschichte unterstellen noch beide. Die Einwände gegen die Geistphilosophie werden dann aber weiter ausgebaut. Schopenhauer und Nietzsche, die den Leib und das Leben als philosophische Grundbegriffe einführen, bringen nicht nur die Materialität des Seins ins Spiel, sondern auch eine pessimistische Weltsicht. Die Vernunft wird nicht mehr als Garant einer möglichen Einheit von Allem gesehen, sondern als Ausdruck einer nüchternen Rationalität, hinter der andere Mechanismen, wie Macht- oder Willensprinzipien arbeiten. Geschichte erscheint ihnen als Verfallsgeschichte. Auf der anderen Seite führen technische Fortschritte zu einer Wissensexplosion und einer Erfolgsgeschichte der Naturwissenschaften. Philosophie befindet sich wieder einmal in einer neuen Konkurrenzsituation um Wahrheit und muss sich neu positionieren. Verstärkt kommt jetzt Sprache als System in den philosophischen Blick, die künftige Bedeutung der Sprachphilosophie kündigt sich bereits an. An der Erfassung von Sprache entscheidet sich die Wahrheitsfrage erneut. Sprache bildet den menschlichen Weltzugang, sie liefert Begriffe, die je nach philosophischer Einschätzung entweder Wirklichkeit tatsächlich erfassen können oder aber zu Scheinwirklichkeiten verführen, wie Nietzsche meint. Sprache bestimmt das Denken selbst, und die Frage steht erneut im Raum, wie fiktional die Begriffe tatsächlich sind.

Publication details

DOI: 10.1007/978-3-658-16237-5_5

Full citation:

Reisch, H. (2018). Philosophie im neunzehnten Jahrhundert: Vom Aufstieg und Fall der Vernunftansprüche, in Kleine Geschichte der Philosophie, Dordrecht, Springer, pp. 151-195.

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