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217702

(2003) Im Zug der Zeit, Dordrecht, Springer.

Avantgarde oder Wie man wider Willen die Vergangenheit fortschreitend interessanter macht

Hermann Lübbe

pp. 91-117

Die Postmoderne werde "auf lange Zeit wahrscheinlich schnell vergessen" sein — so äußerte sich kürzlich ein bekannter Architekt1 und verwies auf neueste Bauprojekte, die man statt "postmodern" "neo-monumentalistisch" nennen könne. Im Feuilleton mehren sich Rückblicke auf die Postmoderne. Allein schon die Semantik der Wortbestandteile von "Post-Moderne" provoziert dazu, einen Architekturstil, in dessen Selbstkennzeichnung ein anderer Architekturstil für vergangen erklärt ist, seinerseits für vergangen zu erklären. Die Medien in ihren einschlägigen Programmen und analoge Einrichtungen der Dauerreflexion haben sich diese Chance nicht entgehen lassen. Wer architektonisch, literarisch oder philosophisch die Postmoderne nicht mitgemacht, ja vielleicht auch nur verschlafen hat, gewinnt Aussichten, sich seinerseits plötzlich ganz vorn zu befinden. Andererseits verliert allmählich in diesem Prozeß fortgesetzter Überholungen der Platz auf der Spitze des Zeitpfeils an Interesse und Aufmerksamkeitswert. Das ergäbe dann eine Kultur fortschreitender Unverbindlichkeit des Fortschritts. Eben diese Unverbindlichkeit auszurufen, die Ankündigung also, "das Ende der linearen Zeit"2 sei erreicht, war der Hauptimpuls postmoderner Philosophie. Das bedeutet: Die Postmoderne versteht sich nicht mehr als Avantgarde. Gleichwohl ist sie in den Einrichtungen des Kulturbetriebs als solche behandelt worden. Worin hätte entsprechend der Avantgardismus der Postmoderne bestanden? Er bestand im Nachweis, daß die Paradoxien des Versuchs, Avantgardismus zum Prinzip zu erheben, die Avantgarde ad absurdum geführt haben.

Publication details

DOI: 10.1007/978-3-540-38360-4_4

Full citation:

Lübbe, H. (2003). Avantgarde oder Wie man wider Willen die Vergangenheit fortschreitend interessanter macht, in Im Zug der Zeit, Dordrecht, Springer, pp. 91-117.

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